
Es fühlte sich seltsam an, diese Straße entlang zu gehen, die er so viele Jahre gemieden hatte. Wie froh war er damals gewesen, als er der muffigen Enge des kleinen Häuschens endlich hatte entkommen können. In dem sein Vater wegen jeder Kleinigkeit Zetermordio schrie und seine Mutter versuchte, mit Plätzchen backen den Anschein einer heilen Welt zu erzeugen. Verlogen. Abstoßend. Spießig. Bloß weg!!! Auf keinen Fall so werden wie sein Vater, dieser gefühllose Klotz. Das war sein wichtigstes Ziel gewesen seitdem. Denn sein Vater hatte seine Bedürfnisse nie überhaupt nur wahrgenommen.
Er hatte den Kontakt gleich nach dem Auszug abgebrochen. Und sich geschworen, bei SEINEM Sohn alles anders zu machen. Sich zu kümmern. Und das hatte er. Er war da gewesen für seinen Sohn. Immer. Er war stolz auf seine Erziehung.
Bis – gestern: Er hatte seinen Sohn bei der Studienwahl beraten wollen. Und plötzlich war dieser ausgerastet: „Du siehst mich überhaupt nicht!“ hatte sein Sohn geschrien. „Du willst mir immer nur das aufdrängen, was DU in deinem Leben gerne gehabt und gemacht hättest! Aber ICH will etwas ganz anderes!“
Es war ein Schock.
Und plötzlich hatte er das Bedürfnis verspürt, seine inzwischen alten Eltern zu besuchen. Das erste Mal seit dem Auszug.
Jetzt ging er diese Straße entlang. Und er fühlte, wie etwas in ihm schmolz. Ein nie gekanntes Gefühl zu seinen Eltern in ihm aufstieg. Ein Gefühl das er nur als „weichmütig“ beschreiben konnte.
Er drückte auf den Klingelknopf… .
Wie immer mit Dank an Christiane, bei der alles Wissenswerte rund um die Etüden nachzulesen ist (Schreibeinladung für die Textwochen 01.02.21 | Wortspende von Ludwig Zeidler | Irgendwas ist immer (wordpress.com).
Es ist wohl immer irgendwie eine Gratwanderung zwischen Besser-machen-wollen und Loslassen-können.
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Ja, das glaube ich auch. Liebe Grüße
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Ja, liebe Maren, so geht es wohl vielen bereits Erwachsenen mit ihren Eltern. Ja, es wiederholen sich die Erwartungen an die Kinder, wenn man unerfüllte aus der Vergangenheit noch in sich trägt. Darum ist es so wichtig, dass die Kinder sich da deutlich abgrenzen, erst dann können die unbewussten steckengebliebenen eigenen Erwartungen aufgedeckt werden und evtl. augelöst werden, damit nicht alles unbewusst von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Ich mag Geschichten, die offen bleiben im Ausgang, die uns selber noch Spielraum für eigene Phantasie lassen.
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Vielen Dank, liebe Melina, für den schönen Kommentar! Genau das wollte ich damit sagen, Denn ich glaube, dass es nicht selten passiert, dass unbewusst bestimmte Muster weiter gelebt – und dann möglicherweise auch weiter gegeben werden, die man eigentlich gerade nicht wollte, aber irgendwie auch nicht so richtig aufgearbeitet hat. …
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Oha. Das heißt, er ist ausgezogen und war seitdem nie mehr da, könnte überspitzt heißen, er hat seine Eltern seit damals nicht mehr gesehen, nicht bei der (angenommenen) Hochzeit, nicht zur Geburt des Kindes? Er hat sich einfach NIE MEHR gekümmert?
Und jetzt geht er einfach hin, einfach so, weil sein Sohn ihn angeschrien hat und er plötzlich begreift, dass er noch eine Rechnung offen hat?
Versteh mich nicht falsch: Gut, dass er das macht. Ich habe in deinem Kommentar auch gelesen, worauf du hinauswillst, und gebe dir selbstverständlich recht, das sind Muster, die man unbewusst mitnimmt.
Aber glauben, glauben tu ich dir den Ablauf der Geschichte so nicht, denn ich halte so was für erheblich komplexer …
Ganz herzliche Grüße und danke für das heiße Eisen
Christiane 😀
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Du hast natürlich recht, dieses Thema ist für 300 Wörter etwas sehr komplex… .
Mein Ansatz war dabei weniger, dass er das Gefühl bekam, eine Rechnung offen zu haben. Das „weichmütig “ hatte mich eher zu der Vorstellung inspiriert, dass er beginnt, seine Eltern mit anderen Augen sehen zu können, als nur der Wut und Ablehnung, die er vermutlich seit TeenagerZeit mit sich trug. Was ihm vielleicht dabei helfen kann, auch sich selbst anders wahrzunehmen.
Führt jetzt sehr tief…. , aber die Generation der Kriegsenkel, zu der ich auch gehöre, ist häufig nicht gerade überschüttet worden mit sichtbaren Zeichen der Liebe und Zuneigung durch die eigenen Eltern. Unbewusst bezieht man das fast immer auf sich – und hält sich für nicht „richtig “ oder wie im Fall meines Protagonisten für nicht „wichtig „. Mein Gedanke ist, dass es helfen kann, wenn man den Hintergrund der Eltern erfährt, die ihre Gefühle eben oft aufgrund der Erlebnisse der eigenen Kindheit (Krieg) in sich eingeschlossen haben. Man vielleicht zumindest kognitiv erkennen kann, dass die Art ihrer Erziehung also kein Werturteil über das eigene Kind darstellte, sondern Ausdruck der eigenen Geschichte war.
Aber ja, das ist ein äußerst komplexes Thema…!
Abendgruß!!!
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Lass uns hier nur einfach die Etüde vom Inhalt trennen: So, wie du es beschreibst, funktioniert es für mich nicht …
Aber inhaltlich bin ich komplett bei dir. Meine Eltern haben auch beide den Krieg erlebt, ich weiß, wovon du sprichst, ich trage auch daran.
Herzlich zurück! 😀
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Die eigene Mutterschaft hat mir auch die Augen für meine Mutter geöffnet und mein Mitgefühl mit ihr und ihrem Handeln geweckt, natürlich war deswegen plötzlich nicht alles gut, worunter ich als Kind gelitten habe, aber insgesamt wurde ich weicher ihr gegenüber und habe, wenn ich mich mal wieder dabei erwischt habe, „wie meine Mutter zu reden oder zu handeln“ an die Kandarre genommen. Trotzdem habe auch ich meinen Kindern nicht nur gut getan, womit ich sie wirklich verletzt hatte, haben sie mir später gesagt und da bin ich das eine und andere Mal aus allen Wolken gefallen!
Solch einen langen Kontaktabbruch hätte ich niemals ausgehalten, es gab einen, ja, aber der kam erst sehr, sehr spät und war für mich extrem schwierig und ich war froh, als ich ihn aufheben konnte, meine Mutter auch, wir haben zusammen erst einmal geheult, dann gelacht, dann geredet. Insofern stimme ich Christiane zu, nach Jahrzehnten stelle ich mir das nahezu unmöglich vor. Trotzdem ist deine Etüde ein guter Gedankenstups 🙂
Herzliche Grüße
Ulli
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Vielen Dank, liebe Ulli, für deine schöne Rückmeldung!! Darin sind viele der Gedanken enthalten, die sozusagen für mich der Aufhänger für die Etüde waren. Wobei die Etüde sicher nicht wörtlich genommen werden kann.
„Weichmut“ finde ich ein spannendes Wort. Anders als „Sanftmut“ wirkt „Weichmut“ auf mich mehr nach aussen gerichtet. So, als würde man weich werden gegenüber jemand, den man zuvor hart beurteilt/ verurteilt hat. Und ich glaube, mehr Weichmut bei der Beurteilung der eigenen Eltern – und natürlich sich selbst-, könnte uns manchmal nicht schaden. …
Liebe Grüße
Maren
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Weichmütig, was für ein wundervolles Wort.
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Ja, irgendwie ein schönes Wort. Finde ich auch! 😀
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