
Heute war 100m-Lauf. Die Sportlehrerin hatte die Zeiten gemessen. Die vier besten Mädchen sollten nächste Woche beim Sportfest in der Staffel gegen andere Schulen antreten.
Und die Schnellste bei diesem Lauf heute war Ina gewesen. Die Sportlehrerin sah sie für die Schlussposition vor.
Ina strahlte. Sie war eigentlich keine Sportskanone. Bei jedem Sport eher mittelmäßig. Entsprechend stolz war sie auf ihr gutes Ergebnis heute.
Bis die Stimmen der anderen zu ihr drangen. Der Mitschülerinnen. Der Mädchen, die immer die guten Läuferinnen gewesen waren: „Wieso denn ausgerechnet Ina? Es sollten doch die laufen, die das anständig können. Die ist doch viel langsamer als wir. Und dann auch noch als Schlussläuferin! Die wird uns alles kaputt machen. Nehmen Sie die raus!“
Ina versuchte, nicht zuzuhören. Sich in ihr Inneres zu verkrümeln. So, wie sie es gewohnt war, in solchen Situationen. Aber die Stimmen drangen trotzdem in sie ein.
Die Lehrerin entschied, Ina in der Staffel zu lassen. Aber wegen des Protests der anderen nicht in der Schlussposition, sondern als dritte Läuferin. In der Kurve.
Dort war sie noch nie gelaufen.
Der Staffellauf begann.
Sie lagen auf Platz 2.
Die Übergabe klappte. Ina kam gut los. Sie rannte so schnell sie konnte. Die ersten Meter. Sie wollte niemanden enttäuschen.
„Die kann das nicht! Die wird uns alles kaputt machen.“ Unbarmherzig erklangen die Stimmen aus ihrem Inneren.
Ihre Beine wurden plötzlich schwer. Immer schwerer.
„Die kann das nicht.“
Ihre Beine fühlten sich an wie Beton.
„Die wird uns alles kaputt machen!“
Sie stolperte über ihre schweren Füße und stürzte.
Sie hatte die Prophezeiung der anderen erfüllt.
Mit gesenkten Augen schlich sie vom Platz.
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Wie immer mit herzlichem Dank an Christiane für ihre liebevolle Betreuung der Etüden, deren aktuelle Einladung hier zu finden ist: https://365tageasatzaday.wordpress.com/2021/09/19/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-38-39-21-wortspende-von-werner-kastens/.
Und an Werner Kastens für die Wortspende!
Niemals an Erfolg denken – läuft man diesem nach, so läuft er davon.
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Läuft man allerdings dem Misserfolg nach, so wird er sich einstellen … .
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Erinnert mich irgendwie an die eigene Schulzeit. Es dauerte dann eine halbe Ewigkeit bis ich ein mir sehr früh angedachtes „fehlendes Durchsetzungsvermögen“ entkräften konnte. Dann war ich aber „der Streitende“. Lol LG Michael
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Der „Streitende“ (selbstverständlich für das „Gute“…) passt ja auch viel besser zu deinem Namen … 😉
Das einem selbst von anderen „angedachte“ kenne ich auch. Und die daraus entstehenden Probleme, an denen man dann „ewig“ arbeitet.
Herzliche Grüße!
Maren
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Das hast du schön geschrieben. Lol Gerade in dieser Hinsicht mag mich die „kirchliche Seite“ nicht. Aber mit dem Alter kommt der Gleichmut. 😉 Beste Grüße auch dir! Michael
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Ich kenne so eine ähnliche Situation von früher, wenn es um die Auswahl der Mitschüler für das Fußballspielen oder beim (ach so beliebten) Völkerball war. Da ist mancher durch das „Sieb“ gefallen und hat darunter gelitten. Und wenn es hieß: das schaffst du nie, dann stellte es sich meistens auch so ein.
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Völkerball war das, wo man die anderen „abwirft“, oder? Schon von der Grundidee her ein total blödes „Spiel“, finde ich. .. .
Ja, genau das, was du auch beschreibst, meinte ich mit der Etüde. Gerade beim Sport ist es wahrscheinlich nicht selten, dass Kinder, die nicht ganz so sportlich beliebt sind, von den anderen sozusagen „aussortiert“ werden, denke ich. Und das wird dann zu einer Art „Prophezeiung“….
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Ja, ‚abwerfen‘ ist gut. Ich mochte es auch nicht, obwohl ich häufig zu den letzten im großen Feld gehörte, ein geschickter Fänger war und dadurch für meine Seite des Öfteren ein Comeback bis zum ‚Sieg‘ vorbereiten konnte.
Die Etüde mag ich übrigens auch nicht, obwohl ich sie besternderlt hab – also den Ausgang, meine ich … 😉
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Prophezeiung: Meine nächste Etüde hat einen „positiven“ Ausgang 😉😃. Wobei auch das natürlich Ansichtssache ist … .
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Spannend … 😉
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Ach, schade, ich hätte mich so für sie gefreut, wenn sie den Mist nicht verinnerlicht hätte. Das Problem ist natürlich auch, dass sie sich selbst als „nur mittelmäßig“ erfahren hat und sich daher auch nicht besser einschätzt.
Keine Überraschung also, dass man sie verunsichern kann, leider 😟
Guter Text, mag ich sehr.
Nachmittagskaffeegrüße 😁🌧️🌳🍃☕🍪👍
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Dankeschön! 🙏 Ich halte es für schwer, so etwas nicht zu verinnerlichen. Für ein Kind / Teenager wahrscheinlich fast unmöglich 🤔.
Herzliche Nachmittagskaffeegrüße zurück! ☕☕☕
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