Stier

Taubenetztes Grün, saftiges Moos, sprudelnde Wasserfälle, üppig blühende Gärten.

So sah sie aus. Die Insel, die man heute Kreta nennt.
Kreta nach der Kreatur, die Europa entführt und vergewaltigt hat.
Und nach der Kreatur, die den Zugang zur Frau in ein Labyrinth verwandelt hat.

Es ist eine Kreatur, die leicht gereizt werden kann. Eine Kreatur, der man Hörner auf den Schädel gesetzt hat, die zu gefährlichen Waffen werden können.

Wenn er wütend wird.

Der Stier.

Rot, die Farbe der erfüllten Sexualität, diese Farbe ist für ihn eine Provokation.

Er mag Weiß. Die Farbe der Jungfräulichkeit.

Sie tragen daher weiße Hosen und halten das rote Tuch weit von sich weg, die jungen Männer.
Und statt mit den jungen Frauen zu tanzen, tanzen sie um den Stier herum mit ihren Lanzen.
Sie kämpfen um Trophäen, um Geld und Gold, Ansehen und Ruhm.
Ansehen und Ruhm erscheint ihnen der Sinn ihres Daseins.
Die positive Bewertung durch andere Lebenselixier.

Die Trophäe ersetzt ihnen die Frau. Das Wesen, das sie stattdessen in ihr Haus holen, wird für die Trophäenjäger zum Objekt.
Das ins Regal gestellt wird.

Denn die wahre Frau wurde vom Minotaurus eingesperrt. Ihr Schoß mit einem Häutchen verschlossen. Der Verschluss zum Gütesiegel erklärt.
Wer es brach, ohne dass vorher ein Vertrag geschlossen wurde, riskierte sein Leben.

Der Verschluss erforderte, dass der Mann hart werden musste. Was sich einst samtweich in die für ihn vorgesehene Blüte geschmiegt hatte, wurde so zu einem harten Zylinder. Technik und Mechanik hatten begonnen, Natürlichkeit und Natur zu ersetzen.

Zur Göttin der Liebe war eine Frauengestalt geworden, die aus dem Kopf des Stieres entsprungen und aus Schaum geboren worden war.

Und so wurden Europas fruchtbare Feuchtgebiete karg und rau.


Ein Beitrag zu den abc-Etüden, deren aktuelle Einladung hier https://365tageasatzaday.wordpress.com/2022/03/06/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-10-11-22-wortspende-von-makeachoicealice/ zu finden ist.