
Lieber Jesus! Nein, nicht „Herr Jesus“, denn nichts in deinem Leben deutet für mich darauf hin, dass du die Menschheit eingeteilt hättest haben wollen in „Herren“ und „Sonstige“.
Von deinem Leben war ich schon als kleines Kind fasziniert. Mit deinem Tod – oder besser gesagt, der Art deines Todes – allerdings habe ich stets gehadert.
Noch heute suche ich Antworten.
Und finde sie nicht.
Warum hast du nicht einfach den Hammer zu Staub zerfallen lassen, als jemand damit Nägel in deinen Körper schlagen wollte?
Man sagt, du habest diesen Tod erleiden müssen, um so die Menschheit zu erlösen und von ihren Sünden zu befreien. Aber wovon genau wurde die Menschheit erlöst? Was hat sich geändert?
Wie zur Zeit deiner Folterung kommen noch immer Menschen angerannt, recken ihre Hälse wie Giraffen, um einen möglichst guten Blick darauf zu erhaschen, wie andere verletzt wurden oder werden. Sie gaffen. Und manche filmen es gar.
Dein Tod sei ein Liebesdienst an der Menschheit gewesen.
Aber hättest du nicht viel mehr Liebe verbreiten können in einem langen Leben? In dem du so viele Menschen wie nur möglich von Krankheiten geheilt oder von anderem Unbill befreit hättest?
Um zu zeigen, dass das Leben mit dem Tod nicht wirklich endet, hätte es doch nicht einer vorherigen Folterung bedurft!
Warum sind in den Gebäuden, in denen Menschen in Gedenken an dich der Liebe der Schöpfung huldigen, so wenig Bilder der Schönheit dieser Schöpfung zu bewundern? Statt eines grauenvollen Folterinstruments im „heiligen Raum“ – Bilder, die die liebevolle Fülle der Natur würdigen? Der Erde im Zusammenspiel mit Mond und Sonne?
Vielleicht wären dann mehr Menschen mondsüchtig – und weniger Menschen mordsüchtig? Nicht nur manch „Gaffer“ wirkt geradezu verrückt nach echten und erdachten Krimis, Psychothrillern, Horrorgeschichten. So, als wären Tod und Leid anderer kein Leid, sondern eine Art „amüsanter Unterhaltung“.
Was haben wir fehlgedeutet?
Ein Beitrag zu den abc-Etüden, deren aktuelle Schreibeinladung hier https://365tageasatzaday.wordpress.com/2022/05/01/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-18-19-22-wortspende-von-myriade/ zu finden ist.