
Sie war die Schönheit der Steppe. Lange Beine. Eleganter Hals. Exquisite Haarfarben. Wunderschön geschwungene Wimpern.
Sanftmütig wirkte sie.
Und war sie.
Mitfühlend. Auch mit den Bullen, die einsam durch die Steppe zogen. Einsamkeit war nicht schön. Dass ihnen Aggression nachgesagt wurde, mochte sie nicht.
Ebensowenig mochte sie die Geschichten, die in ihrer Giraffengruppe neuerdings über den Menschen kursierten. Er fange Fische, manchmal nur zum Spaß für ihn, die lebenden Tiere in die Luft haltend lachend für seine Freunde posierend. So, als würde er die Qual, die er dem aus seinem Element entnommenen Wesen bereitet, nicht einmal bemerken. Als seien diese ihm schlicht egal.
Konnten Wesen mit einem Herzen, das doch für Liebe stand, so blind und taub für Gefühle anderer sein?!
Jetzt stand da dieser Mann mit diesem Holzkasten.
Was wollte der Typ von ihr? Wieso wollte der sie in diese furchtbare enge dunkle Kiste pferchen und woanders hinbringen?!
Sie gehörte zur weiten Steppe.
Freiheit!
Sie versuchte, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Jedes Wesen verstand die Sprache des Herzens.
Der nicht.
Stattdessen machte er jetzt auch noch einen dummen Witz. Dass Giraffen wohl mondsüchtig seien, weil sie so selten schliefen.
War der irgendwie emotional minderbemittelt?
Oder hatte er wohlmöglich selbst soviel Leid erlebt, soviel Leid gehört, dass er sein Herz irgendwann zugemacht hatte? Versteinern ließ? Sogar den Schmerz unterdrückte, dem ihm dieses harte Herz in seiner Brust doch selbst bereiten musste?
Verzweifelt suchte sie ihm verständlich zu machen, dass Liebe ihn heilen könne.
Sie rief die Göttin der Liebe und alle Wesen, die der Urliebe dienen. Flehte, die Panzerung, die sich um sein Herz gebildet hatte, zu lösen.
Und dann konzentrierte sie sich auf ihr eigenes Herzzentrum und all die Liebe darin. Liebe, an der sie so gerne bereit war, ihn teilhaben zu lassen.
Wenn er es doch nur spüren würde!
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