
„DA wohnst Du…?!“ Wie eine düstere Prophezeiung klang diese Frage ihrer Mitstudent*innen.
Es war schwierig gewesen, überhaupt eine Unterkunft zu finden. Sie hatte kein Geld und sie war spät dran für die Unterkunftssuche. Keine gute Kombination.
So war sie froh gewesen über das kleine Appartement in einem dieser „etwas höheren Häuser“.
Wie verrufen genau diese Häuser in ihrer Unistadt waren, ahnte sie nicht.
In diesen Häusern wohnten Menschen unterschiedlichster Nationen. Und Deutsche, die sich nichts anderes leisten konnten.
Einige wenige Angehörige der unterschiedlichen Nationen trugen die Konflikte ihrer Herkunftsländer auch in ihrem Haus aus. Ihr fiel das vor allem dadurch auf, dass sie manchmal, wenn sie nach einer Party spät Nachhause kam, eine Blutlache im Flur umschiffen musste. Zum Glück war das selten mit dem Blut.
Mit den paar Menschen, die sie in den Häusern persönlich kannte, verstand sie sich gut.
Eines Abends, sie war allein, hörte sie, wie jemand sich an ihrer Wohnungstür zu schaffen machte. Sie rief laut.
Eine Art Lachen vor der Tür. Weitere Geräusche.
Es war kein angenehmes Gefühl.
Sie rief die Polizei an.
Dann stellte sie sich ans Fenster und wartete.
Irgendwann hörte sie keine Geräusche mehr von ihrer Wohnungstür. Sie wusste nicht, ob der Typ sich verkrümelt hatte, oder was Neues ausprobierte.
Nach zwanzig Minuten sah sie ein Polizeiauto in den Hof fahren. Sie atmete auf. Wahrscheinlich war der Typ weg. Aber trotzdem würde sie sich sicherer fühlen mit Polizei in ihrer Wohnung.
Genau drei Minuten später sah sie das Polizeiauto den Hof wieder verlassen.
Ausgestiegen war niemand.
Angerufen hatte auch niemand.
Die Erkenntnis brach in sie ein wie ein Schlag:
„Denen ist dein Schicksal völlig egal. Die schützen nur Menschen, die sie für „anständig“ halten.
Und du gehörst nicht dazu!
Denn du bist arm.
Und du wohnst im falschen Haus.“
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An diese (wahre) Episode aus meiner Studentenzeit musste ich gerade mal wieder denken:
Weil ich immer wieder feststelle, wie sehr es Menschen (und ich nehme mich da nicht aus) ein Bedürfnis zu sein scheint, Personen, die irgendwie anders sind, als sie selbst (das kann das Aussehen betreffen, oder die Meinungen und Grundanschauungen, oder eben die soziale Schicht ) in eine „Gruppe“ zusammenzufassen.
Und wenn sie mit irgendeiner Person aus dieser „Gruppe“ eventuell schlechte Erfahrungen gemacht haben, das als Rechtfertigung zu nehmen, alle Menschen aus eben dieser vermeintlichen „Gruppe“ pauschal abwerten zu dürfen.
Wie immer mit herzlichem Dank an Christiane für ihre liebevolle Betreuung der Etüden, deren aktuelle Einladung hier zu finden ist: https://365tageasatzaday.wordpress.com/2021/09/19/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-38-39-21-wortspende-von-werner-kastens/.
Und an Werner Kastens für die Wortspende!