Der neue Mensch

Was hatte er gelacht, damals, als ihm jemand etwas von dieser ominösen alten Prophezeiung erzählt hatte. Wonach die Menschheit sich erneuern würde im „Wassermannzeitalter“.

Und jetzt stand er hier, zerknüllte nervös seine Wartenummer in der Hand und hätte sich am liebsten sofort wieder verkrümelt.

„Der nächste bitte!“. Seine Nummer.

Er trat ein. In einen Raum, der an ein Spiegelkabinett erinnerte. Nur, dass alle Spiegel zerschlagen waren.
Ein Spiegelmosaikkabinett.

„Tritt näher! Schau in die Spiegel und such dir all die Stücke von dir aus, die dir gefallen.“, hörte er eine Stimme.

Das war gar nicht so einfach:

War das Teil von ihm gut?
Oder doch nicht?
Und jenes?
Vielleicht doch lieber das süße Lächeln?
Aber ein wenig Kampfgeist zu behalten, wäre vielleicht auch nicht schlecht? Nein, lieber nicht. Nicht, dass er sich in die falsche Richtung erneuerte, und ausgestoßen würde. Lieber nicht irgendwie auffallen.

Anständig wollte er aussehen. Und liebenswert.
Ein wenig sportlich. Aber nicht zu sehr. Er wollte ja niemand verschrecken.
Nicht dick, aber auch nicht zu dünn.
Ein wenig selbstbewusst. Aber nur ein wenig.
Bloß nicht narzisstisch wirken. Lieber doch noch etwas weniger Selbstbewusstsein? Ja, besser ist.
Frauenversteher? Unbedingt! Aber nicht total soft. Hoffentlich hatte er die richtige Mischung ausgewählt.
Empathisch. Ja!!! Das mögen alle.
Gebildet. Mensch, das Teil hätte er fast übersehen.
Kreativ. Oh ja! Kreativ kam immer gut.

Die Auswahlzeit war um. Angespannt legte er seinen gefüllten Korb auf das Fließband im nächsten Raum. Dreißig Minuten würde es nun dauern, ihn neu zusammenzusetzen.

Er sah, wie die, die vor ihm an der Reihe gewesen waren, als neue Menschen auf der anderen Seite den Raum verließen.

Irgendwie sahen alle merkwürdig identisch aus. Wie eine Prozession liebenswert aussehender Puppen, dachte er. …

Bevor er in die Maschine gezogen wurde.

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Wie immer mit herzlichem Dank an Christiane für ihre liebevolle Betreuung der Etüden, deren aktuelle Einladung hier zu finden ist: https://365tageasatzaday.wordpress.com/2021/09/19/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-38-39-21-wortspende-von-werner-kastens/.
Und an Werner Kastens für die Wortspende!