
„Nein“ zu sagen, fällt vielen Menschen extrem schwer. Es gibt etliche Selbsthilfebücher zu diesem Thema: Wie lerne ich „Nein!“ zu sagen? Wie lerne ich, Grenzen setzen zu können?
Früher dachte ich immer, dass auch ich damit ein größeres Problem hätte. Hatte ich wohl auch mal, aber schon länger kann ich das vergleichsweise sogar richtig gut. Das wurde mir schon damals an meiner vorletzten Arbeitsstelle deutlich: Wenn Kolleginnen von ihrem Stress erzählten. Und ich dann sagte, „Aber du MUSST nicht immer wieder bis Mitternacht hier bleiben, um dich dann zu ärgern, weil dein Vorgesetzter sich die Arbeit wohlmöglich erst zwei Tage später ansieht. Es ist DEINE Entscheidung, ob du das tust.“ „Ja, aber ich habe ja auch eine Verantwortung für „den ganzen Laden“.“, kam dann oft.
Das gleiche Argument, das auch kam, wenn Kolleg*innen krank zur Arbeit erschienen, was ich (als damals Immunsupprimierte) überhaupt nicht toll und verantwortungsvoll fand. Mir schien das oft eher eine Überbewertung der eigenen Rolle und Wichtigkeit, die einen annehmen ließ, ohne die eigene Person würde der ganze Laden zweifellos zusammenbrechen. Verbunden mit einem übergroßen Wunsch nach Anerkennung der eigenen Leistung und einer gewissen Aufopferungsbereitschaft, für die man auch wieder Anerkennung suchte.
Hinter einer Unfähigkeit zum „Nein!“ steht aus meiner Sicht meist ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung von Außen, ein großes Harmoniebedürfnis – und die Angst, sonst Außenseiter*in zu werden. Als Egoist*in angesehen zu werden.
Menschen, die Grenzen setzen können, wird tatsächlich oft Egoismus unterstellt. Manchmal auch so etwas wie Empathielosigkeit, weil sie mit ihrem „Nein!“ in Kauf nähmen, andere zu verletzen. Diese Vorwürfe kommen logischerweise von Menschen, die selbst keine Grenzen setzen können aus Angst, andere mit einem „Nein“ zu verletzen und dann nicht (mehr) gemocht zu werden. Oder eben weil sie Anerkennung für ihre „Aufopferungsbereitschaft“ erwarten und nicht hören wollen, dass das mit der „Aufopferungsbereitschaft“ IHR Ding ist. (Ich hatte mal eine Phase, in der ich nach meinem Wechsel der Stelle von drei Personen ersetzt wurde, – weiß also, wovon ich spreche mit dem „übergroßen Wunsch nach Anerkennung“ und der „Aufopferungsbereitschaft“ 😉 …).
Die Selbsthilfebücher boomen nicht nur deshalb, weil Menschen ausbrennen, die sich zu viel Stress aufladen, weil sie nicht „Nein!“ sagen können. Sie boomen auch, weil es gemeinhin als wichtig gilt, Leuten, die übergriffig werden, Grenzen setzen zu können.
Als „übergriffig“ scheinen aber nach meinem Eindruck sehr viele Menschen nur körperliche Übergriffigkeit wirklich zu sehen und als Problem zu verstehen. Vermutlich, weil man nur diese bzw. ihre Folgen auch tatsächlich „sehen“ kann.
Die viel weiter verbreitete psychisch-emotionale Übergriffigkeit vermögen viele Menschen hingegen gar nicht als solche wahrzunehmen, so scheint es mir. Das ist vermutlich auch nicht verwunderlich, denn diese Art von Übergriffigkeit wird von Eltern oft schon als ganz „normale“ Erziehungsmethode kleiner Kinder angewendet: „Wenn du nicht … machst, machst du mich traurig.“ „Wenn du … tust, muss ich mich für dein Verhalten schämen.“ „Wenn du … tust, machst du mir eine große Freude.“
Kleinkindern wird damit die Verantwortung für das emotionale Befinden ihrer Eltern aufgebürdet. Und sie lernen früh, Liebe und Anerkennung ist an die Bedingung des Wohlverhaltens geknüpft. Des von den Eltern erwünschten Verhaltens. Das prägt sich im Unterbewusstsein des Kindes ein. Und führt auch im späteren Leben nicht selten sogar noch zu vorauseilendem „Wohlverhalten“, wie oben geschildert. Es ist dann oft ein Leben lang schwer, die Grenze zu erkennen zwischen „eigen“ und „fremd“. Zu erkennen, was tut eigentlich MIR gut, und was tue ich hauptsächlich für andere.
Auch in der Schule später wurde und wird das „Nein!“ sagen und Grenzen setzen nicht geübt. Ganz im Gegenteil wurde es meist weiter ausgetrieben. Es geht ja in der Schule nicht darum, bestmöglich die Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen, sondern das Kind dazu zu bringen, dass es sich den Bedürfnissen der Gesellschaft anzupassen lernt. Und unsere Gesellschaft mag keine „Querulanten“, als die Nein-Sager meist gelten.
Wenn es nur um das „Nein“-Sagen bei zu viel Arbeit geht, ist das vielleicht noch nicht ganz so schlimm. Aber was, wenn es weit darüber hinaus geht?
Ich habe mich oft gefragt, ob unsere Form der Erziehung und Schulbildung eine Verhinderung der schlimmsten Formen und Auswüchse von emotionaler und körperlicher Übergriffigkeit, wie sie z.B. in der Nazizeit erfolgte, überhaupt ermöglicht. Ob eine gelungene Aufarbeitung der Nazizeit nicht stattdessen erfordern würde, das „Nein!“-Sagen zu üben.
Mir wurde zwar damals in der Schule abstrakt beigebracht, dass es wichtig gewesen wäre, in der Nazizeit „Nein!“ zu sagen. Und dass unsere Eltern bzw. Großeltern da leider versagt hätten. Und sich damit mitschuldig gemacht hätten.
Wie das geht mit dem „Nein!“, hat mir aber niemand erklärt. Heutzutage wird oft „Die Welle“ gelesen, oder das Milgram-Experiment besprochen. Und man sagt: „Wie furchtbar, wie schnell das geht, dass Menschen so werden.“ Und irgendwie gehen die meisten dabei innerlich davon aus, IHNEN wäre das nicht passiert. SIE sind „gute“ Menschen. SIE können unterscheiden. SIE können „Nein“-sagen, SIE würden so etwas nicht mitmachen. Und wenn jemand mit einer Nazi-Fahne kommt, sagen sie auch „Nein.“, denn DAS haben wir alle gelernt. Aber beim Milgram-Experiment hatte niemand eine solche Fahne … .
Was macht einen „guten“ Menschen in dem Sinne eigentlich aus? Die an ihn gestellten Erwartungen bestmöglich zu erfüllen? Das ist es, was wir beigebracht bekommen. Das ist aber gleichzeitig genau das, was die Menschen in den oben genannten Experimenten so hat reagieren lassen, wie sie reagiert haben. Und wie wir es „eigentlich“ NICHT gut finden.
Was hätte es also gebraucht?
Die Fähigkeit „Nein!“ zu sagen;
die Fähigkeit, auf das eigene Herz zu hören;
die Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen der Stimme des eigenen Herzens und der fremden Stimme
– und die Erkenntnis dass es oft gar nicht so „gut“ ist, Erwartungen anderer zu erfüllen.
Wäre nicht genau das das eigentlich Wichtige, was wir lernen und auch den Kindern beibringen sollten? Unterscheiden zu können, was sind eigentlich meine Interessen, Gefühle und Bedürfnisse – und was die Interessen anderer?
Wo werde ich fremdgesteuert, benutzt und emotional missbraucht?
Wo wird mir etwas eingepflanzt oder eingeimpft, was bestimmten Menschen nutzt, anderen und mir selbst vielleicht aber sogar schadet?
Wo wird mir Angst gemacht, wo werde ich zu Wut und Hass aufgestachelt gegenüber Personengruppen, Religionen oder sonstigem, was als „schädlich“ für mein Volk bezeichnet wird,- und es vielleicht gar nicht ist?
Wo wird mir eingeredet, ich DÜRFE nicht auf meine Gefühle und Bedürfnisse hören, sondern MÜSSE diese zugunsten von etwas „Größerem“ zurückstellen?
Wo werde ich benutzt, um Botschaften anderer weiterzutragen? Botschaften, von denen diese mir sagen, sie seien überlebenswichtig für mein Volk, meine Familie / meine und ihre Gesundheit? Botschaften, die mir so oft eingehämmert werden, dass ich vergesse, auf mein Gewissen und mein Herz zu hören, und stattdessen diese Botschaften weiter trage? Gar noch diejenigen verurteile, die diesen Botschaften nicht zuhören mögen?
Wo werde ich nur einseitig informiert, während Meinungen und Ausdrucksformen anderer brutal unterdrückt, als „entartet“ oder Ähnliches, abgewertet werden?
Wo wird mir gesagt, ich müsse Befehle befolgen, auch dann, wenn diese mit meinem eigenen Gewissen nicht zu vereinbaren seien? Wo werde ich gelobt, wenn ich Menschen melde, die dies nicht tun?
Wo werden mir Halbwahrheiten als „ganze und eindeutige Wahrheit“ verkauft? Wo wird mir gesagt, ich dürfe nicht zweifeln oder auf Widersprüche hinweisen, weil ich mich sonst an etwas „Größerem“ versündige?
Überall dort könnte etwas faul sein. … Überall dort könnte ein „NEIN!“ gefragt sein.
Zu lernen, „Nein!“ zu sagen, wenn etwas mit den Gefühlen des eigenen Herzens nicht übereinstimmt.
Sich zu trauen, auch dann „Nein!“ zu sagen, wenn alles um einen herum „JAWOLL!!!“ zu brüllen scheint.
Sich zu trauen, sich unbeliebt zu machen.
Sich zu trauen, zugunsten der Stimme des eigenen Herzens zum/r Außenseiter*in zu werden.
Sich zu trauen, auch dann bei dem „Nein!“ zu bleiben, wenn der Druck von Außen steigt, und einen zu zerquetschen droht.
DAS zu lernen. DAS zu üben. Das scheint mir die einzige Möglichkeit, wirklich zu verhindern, dass SO ETWAS nochmal passiert. Experimente wie das Milgram-Experiment oder „Die Welle“ zeigen, wie sehr es einer solchen Übung bedarf.
Ja, es wird unser Zusammenleben vielleicht weniger „kuschelig“ machen, wenn es plötzlich jede Menge „Querulanten“ gibt. Vieles dürfte unvorhersehbarer werden. Regeln würden vielleicht ihren absoluten Stellenwert verlieren. Unsere Demokratie würde lebendig und „Fraktionszwang“ wäre ein Fremdwort. Der Einfluss von Lobbyisten würde schwinden. Die Werbebranche hätte ein Problem. Journalismus würde vielfältig und bunt. Produziert würde nur noch, was einen echten Nutzen für Menschen bringt, denn anderes würde kaum noch gekauft, wenn Menschen es mehr schaffen, auf ihre ureigenen Bedürfnisse zu hören. Massentierhaltung würde der Vergangenheit angehören, weil die Herzensstimme der meisten Menschen das Leid der Tiere wohl nicht wollen würde. Und: Menschen würden nicht mehr so leicht ausbrennen, weil sie sich nicht mehr mehr aufladen würden, als sie stemmen können… .
Könnte das nicht etwas Erstrebenswertes sein?