
Seine Kindheit war kurz gewesen.
Er war drei, als sein Vater starb. Die bis dahin gut situierte Familie musste sparen. Die Kinder selbstverständlich mitarbeiten in Haus und Garten.
Die wenige freie Zeit verbrachte die Kinderschar auf dem Wasser.
Seine geliebte Küddow, die durch seine Heimatstadt floss.
Das war für ihn Freiheit.
Im Sommer im Ruderboot, im Winter als Wasserläufer auf Schlittschuhen.
Er war neun, als der Krieg begann. Das Konzert der Propaganda hatte seine gesamte Kindheit begleitet. Und wie fast alle kleinen Jungs, war er wohl durchaus auch fasziniert von dem, was dort erzählt wurde. Erzählt wurde von allen seinen Lehrern, von Freizeitbetreuern und natürlich in den Medien. Die man damals noch nicht so bezeichnete.
Kinder sind – wer weiß das nicht – sehr beeinfluss- und beeindruckbar. Die Erfolge der „eigenen“ Truppen erschienen atemberaubend. Welches Kind, wie viele Erwachsene wären nicht begeistert?
Er war das Lieblingskind seiner Mutter. Und entsprechend hing er sehr an ihr. Seiner Mutter aber war die katholische Kirche, das Christentum, wichtiger als das „Nazitum“. Für das Kind muss all das verwirrend gewesen sein. Die verschiedenen Botschaften, die nicht wirklich zusammenzupassen schienen.
Die einen – leise – Zuhause. Die anderen – sehr laut -, überall sonst.
Irgendwann, während er langsam in die Pubertät kam, waren die Nachrichten von der Front nicht mehr ganz so toll. Für sein Alter muss er das erstaunlich gut verstanden haben.
Als er zum Volkssturm eingezogen wurde, verweigerte er den Gehorsam. Ein sehr mutiges „NEIN!“ von einem 14-jährigen. Wahrscheinlich hatte er eine starke Persönlichkeit.
Er selbst fand sein „Nein“ gar nicht mutig.
Die Niederlage zeichnete sich ab wie ein Wetterleuchten: Der Einmarsch der polnischen und russischen Truppen in seine Heimatstadt stand bevor. Viele erlebten Furchtbares. Und diese Berichte verbreiteten sich schnell. Die Stadt hatte irgendeine strategisch wichtige Lage. Sehr viel war längst zerstört.
Sie konnten nur das Notwendigste mitnehmen. Die Familie spaltete sich auf. In irgendeinen Viehwaggon konnten sie sich hineinquetschen, seine Mutter mit den drei Jüngsten, von denen er der älteste Junge war. Sie kamen irgendwann in irgendeinem Lager an.
Es fühlte sich für ihn nicht an wie Sicherheit. Eher, als wären sie vom Regen in die Traufe gekommen.
Niemand wollte sie. Man hielt sie für verlaust. Für Menschen zweiter Klasse.
Nur, weil sie am „falschen“ Ort gewohnt und gelebt hatten.
Sie wurden irgendwann einem Hof zugeteilt, um dort zu wohnen und mussten selbstverständlich dort auch arbeiten. Hätten die Leute dort eine Fliegenklatsche gehabt, sie hätten sie sicher auch noch damit angetrieben. Oder sie weggeschickt, diese Flüchtlinge.
Er war so wütend. Was hatte er eigentlich getan, dass man ihn, seine Geschwister, seine Mutter so behandelte? Es kam ihm vor wie reine Willkür.
Ansprechen durfte er das nicht. Jeder Flüchtling hatte Angst, dass es zum Eigentor würde, über Gefühle wie Wut oder Ungerechtigkeit zu sprechen. „Die Deutschen haben selbst schuld.“ hieß es. „Die haben den Krieg angefangen und viel Leid über andere gebracht. Denen steht es nicht zu, selbst zu klagen.“
ER hatte keinen Krieg angefangen. Seine Mutter auch nicht.
Oft kam das Redeverbot von Menschen, die selbst gar nicht so viel verloren hatten. Die sich vielleicht für ihre eigenen Eltern schämten und dieses Schuldgefühl in die ganze Nation projizierten. Dass es auch deutsche Opfer gab, schien ihnen nur gerecht.
Individuelle Schicksale völlig unwichtig – so lange es nicht das eigene war.
So kam es ihm vor.
AUSGESPROCHEN hätte er das NIEMALS.
Er verschloss alles in sich. Wut, Trauer, Bitterkeit, Angst. Vermutlich hoffte er, dass dieses Loch, dieses Sommerloch, das Krieg, Flucht und Unerwünschtsein in seine Seele gerissen hatten, irgendwann vernarben würde.
Dass er dieses Gefühl, wertloser zu sein, als andere, irgendwann nicht mehr spüren würde.
Er suchte Sicherheit, immer und überall. Denn er wusste genau, alles konnte einem von heute auf morgen genommen werden. Wie ein Glühwürmchen, an dem man sich gerade erfreut: Da ist es auch schon verglüht.
Er klammerte sich an die Kirche. Dort traf er andere, mit ähnlichen Schicksalen. Eine davon wurde seine Frau. Die Kirche war für viele Flüchtlinge und Heimatvertriebene der einzige Anker. Eine Art Heimatersatz. Eine Institution, wo man sich ein wenig willkommen fühlte in einer Welt, die einen nicht mochte. Vielleicht auch empfand man eine Art „Dankesschuld“ gegenüber Gott. Immerhin hatte man überlebt. Das war nicht gerade jedem vergönnt gewesen.
Zu seinen Söhnen fand er wenig Zugang. Er konnte ihre Bedürfnisse, ihre Persönlichkeit nicht sehen. Das hätte wohl bedeutet, SEINE Bedürfnisse als Kind spüren zu müssen. Wie hätte er das können?
Seine Tochter wollte er schützen vor dem Bösen der Welt. Ihre kindlichen Prinzessinnenwünsche wurden ignoriert. Stattdessen gab es einen Jungenkurzhaarschnitt, eine schrecklich aussehende Brille und oft Kleidung der Brüder. Sie hätte so gerne lange Haare gehabt.
Erst Jahrzehnte später vermochte sie, gedankliche Beziehungen zu dem herzustellen, was er im Krieg und auf der Flucht gesehen haben musste. Was er vielleicht damals als Jugendlicher verhindern wollte – und nicht konnte.
Irgendwie ging das Leben nach der Flucht für ihn weiter. Er konnte eine Lehre machen. Sicher nicht sein Traumberuf. Aber er war froh, überhaupt die Möglichkeit zu haben, Geld zu verdienen. Endlich ein Anfang. Abends besuchte er das Abendgymnasium, sobald es ging, und machte das Abitur nach. Dann ein „sicherer“ Job. Wiederum nicht gerade ein Traumberuf. Aber ein „sicheres“ Einkommen.
Er war fleißig und sehr sehr sparsam. Und so baute er sich und seiner jungen Familie eine bescheidene neue Existenz auf. Über Ideen wie „Dachbegrünung“ hätte er verächtlich gelacht.
Reisen, die Welt kennenlernen, das war der einzige „Luxus“, den er sich mit der Familie gönnte. Erst nahe dran an der neuen Heimat. Später auch weiter weg, wenn auch nicht zum Similaungletscher. Die Sehenswürdigkeiten wurden abgehakt wie in einer To do -Liste.
Echte Lebensfreude zeigte er selten. Den ersten Café-Besuch im Urlaub gönnte er sich, da war er bereits weit über 60. Und er tat es seiner Tochter zuliebe.
Nur die Aussicht auf Rudern oder auf Schlittschuhlaufen vermochte stets, seine Lebensgeister zu wecken. Und ihm noch als Rentner eine kindliche Freude zu bereiten, die sonst sehr selten zu sehen war bei ihm.
Man hat ihm seine Kindheit geraubt.
Man hat ihm seine Jugend geraubt.
Er hat gekämpft für sein Stück vom Leben.
Um die vielen Wunden auf seiner Seele hat sich nie jemand gekümmert.
Er war mein Vater.
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Wie immer mit Dank an Christiane für ihre liebevolle Betreuung der Etüden. Die Regeln zum Sommerpausenintermezzo sind hier zu finden: https://365tageasatzaday.wordpress.com/2021/07/11/7-aus-12-etuedensommerpausenintermezzo-ii-2021/