Verhältnismäßigkeit – medizinisch und juristisch gesehen

gemalt von Dörte Müller

Wie oft habe ich mir gewünscht, dass es in der Medizin so etwas geben würde, was man in der Juristerei als „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ kennt. Dass man sich also als Arzt (und Patient) zuerst klar werden muss, welches Ziel man mit einer Maßnahme erreichen will:
– „Bekämpfung“ einer Krankheitsursache
– Unterdrückung von Krankheitssymptomen
– Veränderung von (Labor-)Werten
– Krankheitsvorbeugung.

Unsere Medizin ist so angelegt, dass es in den allermeisten Fällen um die Unterdrückung von Symptomen und / oder Veränderung von Laborwerten geht. Denn Krankheitsursachen sind in der weit überwiegenden Zahl der Fälle nicht bekannt und werden auch nicht gesucht. [Allenfalls Teilursachen, wie bei Infektionen der Kontakt mit einem „Erreger“, wo dann allerdings wiederum nicht geschaut wird, WARUM jemand nach diesem Kontakt erkrankt und zehn andere Menschen nach demselben Kontakt nicht.]

Für Patienten stellt sich also schon zuallererst die Frage, ob das mit der Behandlung zu erreichende Ziel eigentlich eines ist, das seinen Bedürfnissen dient (oder eher eines, das den Bedürfnissen der Pharmaindustrie folgt).

Wenn ich mit dem Ziel einverstanden bin, stellt sich die Frage: Ist das Mittel, das gewählt wird, geeignet, dieses Ziel zu erreichen? Die Medizin geht in dieser Frage recht pauschal vor: Wenn in den Zulassungsstudien zu einem Medikament „nachgewiesen“ wurde, dass dieses die fraglichen Symptome häufiger reduziert, als ein Placebo, dann gilt es als „geeignet“. Und zwar für jede*n mit den entsprechenden Symptomen. Die Geeignetheit im konkreten Fall wird meist nicht geprüft, sondern mit Hinweis auf die Studien pauschal behauptet.

Wenn ein Mittel als geeignet angesehen wird, wäre die nächste Frage, ob es auch erforderlich ist, um das gewünschte Ziel zu erreichen, oder ob es vielleicht ein milderes Mittel gäbe, das genauso geeignet wäre. Das könnte z.B. eine Dosishalbierung sein, es könnten Globuli sein, eine naturheilkundliche Behandlung oder auch nur Abwarten und Bettruhe.
In der Praxis der Medizin erlebe ich solche Überlegungen selten, und normalerweise nur, wenn es um „Bagatellerkrankungen“ geht.

Der letzte Punkt ist die Frage der Angemessenheit der Maßnahme, der sogenannten Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn. Hier geht es um die Abwägung, ob der zu erwartende Nutzen der Maßnahme in einem angemessenen Verhältnis zu den zu befürchtenden Risiken und Nebenwirkungen der Maßnahme steht. Und zwar im konkreten Fall.
In der Theorie wird häufig behauptet, dass in der Medizin genau dies geschehe und zum Standard gehöre. In der Praxis beobachte ich das nicht. Grund ist, dass wir eine „Leitlinienbasierte“ Medizin haben: Sprich ein sogenanntes „Expertengremium“ legt in „Leitlinien“ nieder, welche Behandlung bei welchen Symptomen und Laborwerten als Standard gilt, um „qualitativ hochwertige Medizin sicherzustellen“. Und die Ärzte richten sich in aller Regel nach diesen „Leitlinien“. Denn, obwohl genau dieses Vorgehen die Möglichkeit der Anwendung des „Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ oder auch des Grundsatzes „Zuallererst nicht schaden“ konterkariert, ist es ironischerweise für die Mediziner*innen ein Schutz vor Haftung bei Schäden durch die Behandlung: Denn die Gerichte und gegebenenfalls von ihnen gehörte Gutachter sehen eine leitliniengerechte Behandlung in aller Regel als Behandlung „lege artis“ an. Wenn ein Arzt also eine genau am konkreten Patienten ausgerichtete individuelle Behandlung durchführt, – mit anderen Methoden, als in diesen Leitlinien vorgesehen -, ist er einem größeren Haftungsrisiko ausgesetzt, wenn es schiefgeht, als wenn er stur diesen Leitlinien folgt.
Das ist unsinnig und stellt das Patientenwohl auf den Kopf, ist aber leider geltende Praxis (Pharmalobbyismus im Gesundheitssystem ist eine Krake, deren tatsächlichen Ausmaß man sich vermutlich gar nicht vorstellen kann …).

Nun ist das Arzt-Patienten-Verhältnis ein zivilrechtliches und deshalb habe ich mit meinem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dort schlechte Karten. Und als Patient habe ich ja normalerweise auch die Wahl, ob ich eine vorgeschlagene Behandlung durchführen lasse und ob ich überhaupt bei dem betreffenden Arzt bleiben möchte.

Anders ist es bei hoheitlichen Eingriffen des Staates.

Wir haben in Deutschland das Glück, ein wunderbares Grundgesetz zu haben, in denen unsere „Grundrechte“ festgeschrieben sind. Die meisten Grundrechte sehen vor, dass der Staat durch Gesetz Eingriffe in diese Rechte vornehmen darf, aber solche Eingriffe müssen sich nach unserer Rechtsordnung streng am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Wenn der Staat die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in Grundrechte nicht begründet, nicht begründen kann, dann IST dieser Eingriff rechtswidrig. Und die Verhältnismäßigkeit ist ausschließlich dann gegeben, wenn ALLE oben genannten Punkte erfüllt sind. Das ist juristisches Grundwissen.

An der Schnittstelle zur Medizin scheint es mir hier aber inzwischen einige „Schludrigkeiten“ zu geben, bei denen das oben skizzierte medizinische Vorgehen sozusagen in die Juristerei übernommen wird:

Das Infektionsschutzgesetz dient dem Schutz vor übertragbaren Erkrankungen. Man könnte bereits über diese Zweckbestimmung streiten, denn darin liegt eine gewisse Wertung des Gesetzgebers, dass er übertragbare Erkrankungen für gefährlicher für die Bevölkerung (und den Schutz davor für regelungsbedürftiger) hält, als nicht übertragbare Erkrankungen wie Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen oder Autoimmunerkrankungen. Eine Wertung, die ich persönlich für falsch halte. Aus juristischer Sicht dürfte eine solche Wertung aber im Ermessensspielraum des Gesetzgebers liegen.

Als konkrete Ziele der „Covid-19-Regelungen“ des Infektionsschutzgesetzes werden, soweit mir bekannt, angegeben: die Krankenhäuser zu entlasten,
und die Ansteckungsquote zu verringern.
Die Krankenhäuser davor zu bewahren, ihre Kapazitätsgrenze zu überschreiten, ist ein wichtiges Ziel. Wenn allerdings mit dieser Begründung Grundrechte eingeschränkt werden, ist es mehr als merkwürdig, wenn im gleichen Zeitraum staatlicherseits Krankenhäuser geschlossen und Zigtausende Betten und Intensivbetten abgebaut werden. Der Staat kann nicht Grundrechte einschränken, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, das er mit anderen Maßnahmen selbst konterkariert.

Die Ansteckungsquote zu verringern, ist bereits als Ziel hingegen nicht unproblematisch. Da die vorgesehenen Impfungen oder sonstigen Maßnahmen das Virus anerkanntermaßen nicht ausrotten können, wird die Pandemie mit dem Versuch, die Ansteckungsquote über einen bestimmten Zeitraum niedrig zu halten, letztendlich nur gestreckt. Was die Wahrscheinlichkeit von immer mehr Mutationen erhöht – Und damit auch die Wahrscheinlichkeit, eine Gefährdung der Bevölkerung durch dieses Virus und seine Mutationen AUF EWIG zu verlängern. (Wovon der Staat auch auszugehen scheint, und deshalb Verträge für mehrere Hundert Millionen Impfdosen verschiedener Sorten abschließt bei rund 80 Mio. Einwohnern … .) Insgesamt wird man also dem Ziel des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung wohlmöglich eher schaden.
Da es aber eine Reihe sogenannter „Experten“ gibt, die sogar von einem „Null-Covid“ phantasieren, dürfte juristisch gesehen ein politisches Ziel, das die Ansteckungsquote verringern will, wohl vom politischen Ermessensspielraum gedeckt sein.

Von diesem Ziel ausgehend, müssen die Maßnahmen, die das Infektionsschutzgesetz regelt, also geeignet sein, die Ansteckungsquote zu verringern. Sind sie das?
Zu Beginn der Pandemie konnte man hier mit Hypothesen und Modellrechnungen operieren, da zur tatsächlichen Geeignetheit wenig bekannt war. Weit über ein Jahr nach Beginn der Pandemie reicht dies jedoch juristisch gesehen nicht mehr, denn inzwischen gibt es genug Daten (oder sollte diese geben), aus denen man die tatsächliche Wirksamkeit der verschiedenen Maßnahmen im normalen Leben ablesen kann. Es geht dabei nicht darum, ob Masken z.B. im Modellversuch im Labor eine Plausibilität für einen gewissen Schutz zeigen, sondern, ob sie im Gebrauch im normalen Leben eine Schutzwirkung vor Ansteckung zeigen. Man schaut sich also die Daten an von all den Staaten und Gegenden oder Zeitabschnitten mit Maskenpflicht und vergleicht mit all denen ohne Maskenpflicht. [In Deutschland z.B. war die Ansteckungsquote m.E. geringer, als es noch keine flächendeckende Maskenpflicht gab.] Gleiches macht man mit den Daten bezüglich Geschäftsschließungen, Schulschließungen, Ausgangssperren usw.

Entscheidender Faktor ist dabei natürlich, wie die Ansteckungsquote ermittelt wird, was genau man also darunter überhaupt versteht. Wie viele Tests werden jeweils insgesamt gemacht? Welche Tests? Wie sind die Tests ausgestaltet? (Beim PCR-Test gibt es hier verschiedene Möglichkeiten.) War die Ausgestaltung immer gleich, oder hat man zwischenzeitlich Änderungen vorgenommen? Wird unterschieden zwischen positiven Tests mit Symptomen und ohne Symptomen? Also wird, wie für diese Tests vorgesehen, eine zusätzliche Diagnostik durchgeführt?
Weitere wichtige Daten sind: Wie viele Menschen mit schweren Verläufen hatten (welche) Vorerkrankungen?
Wie viele waren bereits ein- oder zweimal geimpft, und womit?
In welchen Berufen gibt es besonders hohe Ansteckungsraten?

Wenn der Staat nicht weiß und nicht sagen kann, wie er die Ansteckungsquote bzw. den Inzidenzwert eigentlich definiert (wohlmöglich ständig unterschiedliche Bezugsgrößen verwendet, ohne dies deutlich zu machen), dann IST DIESER BEGRIFF NICHT BESTIMMT GENUG, UM DARAUS RECHTMÄSSIGERWEISE GRUNDRECHTSEINSCHRÄNKUNGEN ABZULEITEN.

Unterstellt, die Daten werden beigebracht und es liegt eine eindeutige Definition des Inzidenzwertes vor, so stellt sich die weitere Frage nach der Erforderlichkeit der Grundrechtseinschränkungen. Dabei MÜSSEN mögliche mildere Mittel vom Gesetzgeber erkennbar geprüft worden sein. In Betracht kommen könnte: Maßnahmen auf besonders gefährdete Orte für „Clusteransteckungen“ beschränken wie Altenheime, Krankenhäuser, möglicherweise besonders gefährdete Berufsgruppen, wenn man solche ermittelt hat etc. .
Oder: Maßnahmen auf Szenarien beschränken, wo ein langer, enger Kontakt zu anderen Menschen besteht, und keine ausreichenden Möglichkeiten des Luftaustausches vorhanden sind.

Hätte der Gesetzgeber sich statt des allgemeinen Ziels einer Verringerung der Ansteckungsquote das Ziel gesetzt, schwere Krankheitsverläufe zu reduzieren, wäre ein milderes (und vermutlich besser geeignetes) Mittel als Maskenpflicht und Lockdowns, alles zu fördern, was die Selbstheilungskräfte der Menschen anregt. Um dieses Ziel scheint es dem Gesetzgeber aber nicht zu gehen.

Wenn ich unterstelle, dass der Gesetzgeber begründet hat, warum er solche milderen Mittel für weniger geeignet hält, um das Ziel der angestrebten Reduzierung der Ansteckungsquote zu erreichen, müssen die Maßnahmen auch noch angemessen sein. Hier geht es um eine Abwägung. Je schwerer die Grundrechtseinschränkungen sind, z.B. Berufsausübungsverbote, je mehr Grundrechte betroffen sind und je länger die Einschränkungen andauern, desto strengere Maßstäbe sind an den Nutzen der Maßnahmen anzulegen. Wenn also in dem Fall erheblicher und lang dauernder Grundrechtseingriffe bereits bei der Prüfung von Geeignetheit und Erforderlichkeit das Ergebnis war, dass der Nutzen der Maßnahme eher gering ist, IST DIESE RECHTSWIDRIG.
Selbstverständlich muss der Bürger dabei NICHT nachweisen, dass die Grundrechtseinschränkung, also z.B. das Berufsverbot, ihn psychisch, sozial oder finanziell unzumutbar belastet. DIE GRUNDRECHTE STEHEN JEDEM BÜRGER ZU. PUNKT. Wenn der Staat in diese Grundrechte eingreift, muss ER nachweisen, dass dieser Eingriff verhältnismäßig ist.

In der öffentlichen Diskussion scheint mir hier seit Corona Einiges missverstanden worden zu sein, nach dem Motto, „wer den Schaden hat, muss den Schaden beweisen“. So, wie es im Zivilrecht gilt, daher auch bei ärztlichen Behandlungen – und leider auch bei Impfungen, so lange diese nicht staatlich angeordnet sind.
Im Verhältnis Bürger zu Staat gilt bei uns aber – zum Glück – etwas anderes: DER STAAT MUSS BEWEISEN, DASS EINE MASKENPFLICHT VERHÄLTNISMÄSSIG IST. Nicht umgekehrt!!! Der Staat muss beweisen, dass ein Lockdown verhältnismäßig ist. Nicht umgekehrt!!! Und wenn der Staat die Ausübung meiner Grundrechte von einer Impfung abhängig machen will, dann muss ER beweisen, dass eine solche Regelung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt. Dann muss ER darlegen, welche Ziele, er mit dieser Impfung genau erreichen will und warum er meint, diese mit der Impfung tatsächlich zu erreichen. Und vor allem muss ER darlegen, dass der mögliche Schaden durch diese Impfung im Vergleich zum daraus erwachsenden Nutzen vernachlässigbar ist.
DA REICHEN KEINE BEHAUPTUNGEN!
Da muss geprüft werden, warum die Todesfälle in Israel und anderen Staaten nach dem Start der flächendeckenden Impfungen zunächst so deutlich gestiegen sind. Es müssen alle verfügbaren Daten gesammelt und offen gelegt werden. Es muss geprüft werden, welche Inhaltsstoffe der Impfungen welche Gefährdungen mit sich bringen. Ein besonderes Augenmerk muss dabei auch auf die Booster gelegt werden, also die Stoffe in der jeweiligen Impfung, die sicherstellen sollen, dass das menschliche Immunsystem überhaupt reagiert auf die „Impfung“. (Denn diese Booster sind in den meisten Impfstoffen die Verantwortlichen für die Erhöhung der Gefahr von Autoimmunerkrankungen.) Die insoweit getroffenen staatlichen Abwägungen müssen für die Bürger (und die Gerichte) erkennbar und nachvollziehbar sein.

Momentan erscheint es für mich allerdings eher so, als würden bestimmte Behauptungen von bestimmten Experten einfach übernommen und ohne weitere Überprüfung zur Grundlage gesetzgeberischer Entscheidungen gemacht.

Den Einfluss von von keinem Betroffenen gewählten und auf undurchschaubare Weise zusammengesetzten „Expertengremien“, die darlegen, was sie aufgrund von Modellrechnungen, Laborversuchen, bestimmten Studien und Hypothesen, – vielleicht aber auch aufgrund von Interessenverflechtungen mit der pharmazeutischen Industrie -, für die „richtigen Leitlinien“ halten, halte ich schon im Verhältnis Arzt-Patient für sehr bedenklich.

Im grundrechtsrelevanten Bereich des Verhältnisses Bürger – Staat sind solche Art „Expertengremien“, deren unbewiesene Behauptungen und Hypothesen plötzlich sauber ermittelte Daten, Prüfungen und Abwägungen zu ersetzen scheinen, ein absolutes No-Go!!!