
„Du mit deinem moralischen Zeigefinger…“, sagt mein Mann immer liebevoll, wenn ich mal wieder predige, dass man Menschen dazu bringen müsse, mehr zum Schutz ihrer Umwelt zu tun. (Dass ich zum „moralischen Zeigefinger“ neige, sieht man z.B. deutlich in meinem Beitrag „Die Krone der Schöpfung“ …;-)). Dabei kannst gerade Du es überhaupt nicht haben, wenn jemand Dich „erziehen“ will!“
Das stimmt. Es ist ein Grund, warum ich auf diese Corona-Diskussion so stark reagiere. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich das Gefühl habe, dass Leute meinen, mich erziehen zu müssen. Mich in ihrem Sinne „verbessern“ wollen: Hin zu mehr „Gehorsam“ und weniger Unabhängigkeit. Das geht gar nicht!
Aber beim Umweltschutz … wenigstens so ein klein wenig… . Das müsste doch möglich sein. Wäre schließlich zum Nutzen aller…!
Erziehung? Vom Verstand her weiß ich, dass das nicht klappen wird. Ich kann Menschen meine Bedürfnisse und Gefühle mitteilen. Aber, ob sie meinen Bedürfnissen folgen wollen, muss ich wohl ihnen überlassen. Denn sie haben möglicherweise ganz andere Bedürfnisse, sehen etwas ganz anderes als „zum Nutzen aller“ an. Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten, zum Beispiel. Manch eine*r braucht auch einen „ordentlichen“ Garten, mag weder „Unkraut“ noch Insekten. Oder ärgert sich – so wie ich die letzten Wochen …-, wenn die Vögel doch tatsächlich ganz dreist alle Trauben wegfressen, bevor sie reif sind.;-).
Dennoch: Fast alle Menschen neigen dazu, andere „erziehen“ zu wollen. Jede*r ist immer der Meinung, genau zu wissen, was für andere (oder für alle) gut ist.
Erziehungsformen
Erziehung läuft über Strafe. Tatsächlich scheinen erschreckend viele Menschen es sehr zu mögen, andere zu bestrafen. Wer sich nicht „an die Regeln hält“, müsse bestraft werden. So heißt es bei diesen „Corona-Regeln“ oft. Ob eine Regel sinnvoll ist oder nicht – und wer eigentlich bestimmt, ob sie sinnvoll ist, das sind zweitrangige Fragen. Die Regel ist da. Also muss sie eingehalten werden. Und wer sie nicht einhält, ist zu erziehen, indem er bestraft wird. Und wenn die Regel noch gar nicht da ist, wie die Maskenpflicht bei den Großdemonstrationen im Freien gegen die Corona-Regeln, dann wird sie eben im Nachhinein geschaffen. Auch eine Art Strafmaßnahme (denn die Infektionszahlen hatten ja gar nicht zugenommen nach den Demos, Infektionsschutz konnte also nicht wirklich die Begründung sein…).
Selbst gegenüber anderen Staaten ist diese Art des Erziehungsversuchs sehr beliebt. Zumindest was Russland angeht, meinen erstaunlich viele Politiker*innen, sie müssten dieses Land „erziehen“ über Strafmaßnahmen (Sanktionen).
Solche Art „Erziehung“ überzeugt die „zu Erziehenden“ allerdings so gut wie nie. Sie tun vielleicht kurzzeitig, was von ihnen erwartet wird (andere Staaten tun auch das eher selten). Aber nicht, weil sie es nunmehr aus ganzem Herzen tun wollen, sondern weil sie die Strafe vermeiden wollen. Die innere Auflehnung gegen die „Erziehenden“ nimmt hingegen meistens zu.
Erziehung läuft über Verbote. „Mit denen lässt DU dich nicht auf der Straße blicken! Wir sind schließlich eine anständige Familie. Und mit solchem „Gesindel“ wollen wir nichts zu tun haben!“
Erziehung läuft über Angst machen. Das mag bei Kindern funktionieren: „Wenn du auf die heiße Herdplatte fast, wirst du großes Aua haben.“ Wenn das Kind die Liebe spürt, die hinter der Aussage steckt, wird es sich vielleicht von sich aus daran halten. Erwachsenen zu sagen, „Wenn du keine Maske trägst, wirst du dich mit einer ganz furchtbar gefährlichen Krankheit infizieren.“, ist anscheinend für viele, aber durchaus nicht für jede*n überzeugend. Erwachsene, die sich die Zeit nehmen, Statistiken zu lesen, nachzudenken und Fragen zu stellen, könnten sich hier als „schwer erziehbar“ erweisen. Zumal Liebe hinter der Aussage auch nicht wirklich spürbar ist. …
Erziehung läuft über Beschämung. Auslachen. Lächerlich machen. Auch das ist immer wieder sehr beliebt. Was gibt es nur alles für „absurde Verschwörungstheorien“, ha ha … ! Wie dumm manche Leute sind, ha ha … !
Erziehung läuft über Manipulation. Angst machen gehört dazu. Aber auch Schuldzuweisungen: „Du bist schuld, dass Mami traurig ist, wenn DU …“. „Du bist schuld, wenn andere sterben, weil DU keine Maske trägst.“
Erziehung läuft über Belohnungen. Lob. Anerkennung. Den Wunsch, „dazu zu gehören“.
Viele dieser „Erziehungsformen“ scheinen zunächst zu funktionieren. Menschen, denen man Angst gemacht hat, sind oft sehr bereit, alles Mögliche zu tun, was von ihnen erwartet wird. Wenn sie damit ihre Angst reduzieren können.
Aber wehe, sie kommen irgendwann auf den Gedanken, dass sie manipuliert wurden… ! Wenn ich das Gefühl habe, dass jemand versucht hat, mir Angst zu machen, um mich zu manipulieren und für eigene Ziele zu instrumentalisieren, werde ich zum einen wütend und neige zum zweiten dazu, diesem jemand nie wieder irgendetwas zu glauben. Und das geht sicher nicht nur mir so.
Schuldzuweisungen und Beschämungen führen bei den so „Behandelten“ ohnehin normalerweise nicht dazu, dass sie sich den „Erziehenden“ verbunden fühlen und künftig von ganzen Herzen auf deren Wünsche eingehen werden. Mit dieser „Erziehungsform“ schreckt man vielleicht die schweigende Mehrheit ab, sich wohlmöglich bei nächster Gelegenheit genauso zu verhalten, wie die Beschämten. Das kommt auf den persönlichen Charakter der Leute in der „schweigenden Mehrheit“ an. Manch eine*r macht gerne mit bei den Schuldzuweisungen und Beschämungen (Teile der sogenannten Comedy-Szene scheinen gar davon zu leben nach meinem Eindruck). Manch eine*r fühlt aber auch den eigenen Gerechtigkeitssinn angesprochen und solidarisiert sich „jetzt erst recht“ mit den „Ausgestoßenen“.
Belohnungen, Lob und Anerkennung funktionieren begrenzt, schleifen sich aber ab. Selbst schon bei Kindern, erst recht bei Erwachsenen.
Tja, irgendwie: Andere „zu erziehen“ erscheint den meisten Erwachsenen wichtig. Aber sobald man als Erwachsene*r merkt, dass andere einen selbst „erziehen“ wollen, reagieren die wenigsten Erwachsenen erfreut. Denn als „Erziehende*r“ maßt man sich ja immer an, es besser zu wissen / klüger zu sein, als die zu Erziehenden. Und diese empfinden die Ansicht, dass sie „erzogen“ werden müssten, dann eben meist auch als Anmaßung und Beleidigung – und sind entsprechend empört.
Deshalb ist es m.E. eher kontraproduktiv, wenn die Verantwortlichen in öffentlich rechtlichen Medien denken, sie müssten einen „Erziehungsauftrag“ erfüllen. Von wem auch immer sie meinen, diesen „Auftrag“ erhalten zu haben. Komischerweise wundern sie sich oft sehr, wenn die, die sie „erziehen“ wollten, darüber gar nicht so begeistert zu sein scheinen. Und finden deren Empörung dann wieder total unverschämt, denn schließlich wollten sie ja „nur das Beste“ für alle. Und selbstverständlich wissen sie auch ganz genau, was dieses Beste ist. … .
Was wollen wir erreichen mit unserer „Erziehung“?
Eigentlich streben die meisten Menschen doch an, glücklich zu sein. Und wollen das auch für ihre Kinder. Ist unsere Art, andere zu erziehen, vor diesem Hintergrund wirklich so toll? Ich habe den Verdacht, dass meist nicht einmal den „Erziehenden“ ihre Erziehungsversuche wirkliche Freude machen, wenn ich deren sorgenvollen und ernsten Gesichtsausdrücke bei ihren Äußerungen betrachte…(obwohl sie sich dabei natürlich sehr wichtig vorkommen). Denen, die Adressaten dieser Versuche sind, machen diese Erziehungsversuche meist noch viel weniger Freude. Als Kind kann man oft wenig dagegen tun und fügt sich mehr oder weniger. Es scheint halt dazu zu gehören. Als Erwachsener hingegen ist man verärgert, wenn man sich als Adressat eines Erziehungsversuchs anderer Erwachsener sieht, und fügt sich in der Regel nicht.
Denn Erziehung, wie wir sie praktizieren, fokussiert fast immer auf das, was wir als „Schwächen“ anderer Personen (oder auch von uns selbst) wahrnehmen. Wir beurteilen, was eine Schwäche oder ein Fehlverhalten einer anderen Person sei, und wollen diese „ausmerzen“. Das Fehlverhalten macht uns Sorgen. Wir spüren die „Last der Verantwortung“, dieses Fehlverhalten korrigieren zu müssen. Selbstverständlich zum Besten der betreffenden Person. Und zum Besten aller. So rechtfertigen wir unsere Erziehungsversuche.
Was genau aber ist ein „Fehlverhalten„? Und wer bestimmt das? Ich persönlich neige dazu zu sagen, Fehlverhalten ist alles, was andere Lebewesen quält (auch über Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen), – also z.B. Massentierhaltung … . Andere sehen dies ganz anders. Und würden sich von mir mit dieser Aussage schwer beleidigt fühlen. Insbesondere, wenn ich dann wohlmöglich auch noch behaupte, die Abschaffung der Massentierhaltung wäre auch zu ihrem Besten und würde sicherlich auch ihrem Charakter gut tun… . Und dem Planeten sowieso.
Gerade die Debatte um die Landwirtschaft zeigt es m.E. gut: Mit „moralischem Zeigefinger“ erreicht man nichts, sondern erzeugt verärgerte Landwirte. Mit „freiwilligen Selbstverpflichtungen“ erreicht man auch nichts, wenn diese nicht aus dem eigenen Wunsch der betreffenden Menschen heraus entstehen, wirklich etwas verändern zu wollen. Dieser Wunsch wiederum hat etwas mit den eigenen Werten und Bewertungen zu tun, denke ich.
Natürlich kann man eigene Werte den eigenen Kindern vermitteln, indem man sie ihnen vorlebt. Und bei anderen Erwachsenen? Denen kann man sie ebenfalls vorleben. Aber zwangsweise „überbraten“? Aus solchen Versuchen sind furchtbare Religions- und Ideologiekriege entstanden. Weil Menschen meinten, ihre Werte anderen (gewaltsam) aufdrängen zu müssen. Und sich dabei noch eingebildet haben, sie täten ein gutes Werk.
Wenn wir mit unserer „Erziehung“ wirklich eine bessere Welt anstreben, vielleicht sollten wir es genau anders herum versuchen? Vielleicht ist der gesamte Gedanke mit der schwächenorientierten Erziehung eigentlich ein „Fehlgedanke“? Ich mag die positive Psychologie, die ganz klar davon ausgeht, dass Erziehung stärkenorientiert sein sollte. Aus dieser Sicht sollten Erziehende vorhandene Stärken fördern bei den ihnen Anvertrauten, statt zu versuchen, deren echte oder vermeintliche „Schwächen“ auszumerzen.
Auf die Bereicherung schauen, nicht auf die Schwächen
Inzwischen würde ich persönlich sogar noch einen Schritt weiter gehen. Ich finde, Erziehung sollte in erster Linie dankbarkeitsbasiert sein. Nicht versuchen, das Kind in irgendeine Richtung zu „ziehen“, von der man aus dem eigenen Leben heraus denkt, es wäre für das Kind die „richtige“. Sondern täglich zu üben, die Bereicherung wahrzunehmen, die das eigene Kind bietet und dafür ihm und der Schöpfung unendlich dankbar zu sein. Und darauf vertrauen, dass das Kind die für sie oder ihn „richtige“ Richtung selbst finden wird… . Nicht sich auf die vermeintlichen Schwächen des Kindes zu konzentrieren, von denen man denkt, dass sie seinem späteren „Erfolg“ im Leben entgegen stehen könnten. Sondern das einzigartige Wunder sehen, das jedes Kind ist.
Ich hätte es durchaus toll gefunden, so erzogen zu werden!
Kinder, denen auf diese Art Selbstliebe vermittelt aber auch gleichzeitig Dankbarkeit gegenüber der Schöpfung vorgelebt wird, werden vielleicht auch wundervolle dankbare Erwachsene werden. Die keinerlei Bedürfnis mehr haben werden, die o.g. „Erziehungsformen“ bei anderen (oder auch bei sich selbst) anzuwenden.
Utopie? Ja klar. Jedenfalls noch. Menschen in meinem Alter sind schließlich fast alle ganz anders aufgewachsen.
Und so gebe ich zu, ich muss noch ziemlich viel üben, um meinen „moralischen Zeigefinger“ zu stoppen und stattdessen die Bereicherung in den Menschen wahrzunehmen, die ihren Müll achtlos in die Gegend kippen… ! 😉 Tja, und manchmal will ich das auch gar nicht. Denn, auch wenn ich weiß, dass ich damit wenig bewirke: Manchmal tut es mir auch einfach nur saugut, meinem Ärger über Zeitgenossen, die ich als „ignorant“, „dumm“, „ihre Macht missbrauchend“ oder was auch immer ansehe, mal so richtig Luft zu machen… 🙂