
„Wer ist denn das?“
„Dieses Denkmal, mein Junge, ist einer Tochter dieser Stadt gewidmet. Sie hat vor einigen hundert Jahren hier gelebt. Als junge Frau ist sie dort oben in den Wald gezogen. Sie wollte selbstbestimmt leben. Frei sein.
Das war für Frauen der damaligen Zeit ganz unerhört.
Erstaunlich viele Menschen haben die ominöse Eigenschaft, dass sie nicht akzeptieren können, wenn jemand anders ist. Anders leben möchte, als sie.
Gefangen im Schlick ihrer eigenen Ängste und Zwänge haben die Stadtbewohner damals diese Frau diffamiert. Sie als „Hexe“ beschimpft. Obwohl sie nie jemandem etwas zuleide getan hat.
Die Mächtigen hatten Angst, das Verhalten der Frau könne Schule machen. Dann würden sie ihre Macht verlieren.
Manch andere Menschen hingegen wären am liebsten genauso gewesen wie sie. Weil sie aber nicht den Mut dazu besaßen, machte es sie wütend, dass eine junge Frau diesen Mut besaß. Es war ihnen unerträglich, sehen zu müssen, was auch für sie theoretisch möglich hätte sein können.
Die Stadtbewohner wollten diese Frau brechen.
Sie gab nicht nach.
Sie töteten sie.
Spätere Generationen bauten ihr dann dieses Denkmal.
Sie bewunderten, dass sie anders gewesen war, als der Rest. Mutig und stark. Das fasziniert. Und wird verehrt.
Allerdings meistens erst nach dem Tod solcher Menschen. Lebend sind sie vielen unheimlich. Und werden deshalb verfolgt.“
„Sie mögen sie, oder? Sie haben sogar den Taubendreck von ihrem Denkmal geputzt.“
„Ja. Ich mag ihre Geschichte. Aber, ob ich damals den Mut gefunden hätte, mich vor sie zu stellen und sie zu schützen?
Ich glaube nicht. Das Putzen ihres Denkmals ist für mich eine Möglichkeit, mich vor ihrem Mut zu verneigen.“
„Ich finde Denkmäler komisch. Sie sind so … tot. Mut lebt doch nur weiter, wenn er gelebt wird. Wenn man ihm Denkmäler setzt, erklärt man ihn dann nicht für tot?“
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Wie immer mit herzlichem Dank an Christiane für ihre liebevolle Betreuung der abc-Etüden!!!! Die Regeln mit der Schreibeinladung für die Textwochen 36.37.21 sind hier zu finden: https://365tageasatzaday.wordpress.com/2021/09/05/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-36-37-21-wortspende-von-ludwig-zeidler/